Warum junge Menschen heute Orientierung brauchen?
1. Der Verlust innerer Orientierung
Moralische Entwicklung beginnt nicht im Denken, sondern im Fühlen. Sie entsteht dort, wo
Erfahrungen etwas in uns anstoßen, wo Empfindungen Form suchen, wo Beziehung
Resonanz erzeugt. Zwischen Berührung und Bewegung liegt der Raum, in dem Moral
entsteht – oder verloren geht.
Die Dunkelfeldstudie Jugenddelinquenz der Universität Köln (2024) zeigt: Viele
Jugendliche, die durch Gewalthandlungen auffallen, verfügen über keine stabile innere
Orientierung. Sie leben nicht primär unter materiellen Defiziten, sondern in einem Zustand
seelischer Entkopplung. Gefühle wie Wut, Scham oder Angst tauchen unvermittelt auf,
ohne inneren Halt oder Resonanz im Gegenüber.
In den biografischen Interviews der Studie zeigen sich wiederkehrende Muster: fehlendes
Vertrauen in Erwachsene, geringe Selbstwahrnehmung, kaum erlernte Formen emotionaler
Regulation. Wo kein Raum vorhanden ist, in dem sich Empfindung in Bedeutung
verwandeln kann, bleibt das Fühlen roh – und Moralität reduziert sich auf äußere Regeln,
nicht auf innere Einsicht.
2. Fühlen als Bildungsraum
Der Text Wesen der Lebensgeschichte beschreibt diesen inneren Prozess des
Bedeutungsfindens mit den Worten:
„Eine Geschichte können wir nicht einfach wahrnehmen, sondern wir müssen sie
geistig erfassen.“
Und weiter:
„Eine Geschichte ist unwiederholbar und dennoch sinnhaft… Sie ist eine
grundlegende Seinsform.“
Das verweist auf ein anderes Verständnis von Moralität: Sie ist kein bloßes Lernziel, sondern
ein Geschehen des Verstehens im Sinne von Sein – ein Prozess, in dem Erfahrungen in
einen sinntragenden Zusammenhang treten. Dieses Verstehen geschieht nicht rational,
sondern leiblich und emotional: als Fähigkeit, Gegensätze zu halten, ohne sie zu zerstören.
Aristoteles nannte dies „praktische Weisheit“ – die Fähigkeit, Stimmigkeit mit Unstimmigkeit
zu verknüpfen.
Diese Fähigkeit – das Widersprüchliche in sich zu tragen – scheint nach den Befunden der
Kölner Studie vielfach geschwächt. Jugendliche berichten von starker innerer Spannung,
aber keiner Form, sie auszudrücken. Das führt zu Handlungen, die impulsiv oder
gewaltförmig werden. Was fehlt, ist die Vermittlung zwischen Erleben und Handeln,
zwischen Gefühl und Bedeutung. Wenn das Fühlen nicht integriert, sondern verdrängt
oder entladen wird, entsteht ein moralisches Vakuum. Übrig bleiben Affekte ohne Richtung
– Bewegungen ohne Berührung.
3. Moralische Bildung als Gestaltbarkeit des Erlebens
Moralisches Wachstum hängt nicht primär an Normen, sondern an der Gestaltbarkeit des
Erlebens. Wenn ein Jugendlicher seine Wut im Boxen, Malen oder rhythmischen Tun
verwandeln kann, entsteht eine erste Erfahrung innerer Ordnung. Er spürt, dass seine
Energie nicht nur zerstören, sondern auch tragen kann. Solche Erlebnisse sind keine
Nebensachen, sondern zentrale Bildungsakte.
In ihnen zeigt sich, dass moralische Entwicklung mit der Fähigkeit beginnt, das eigene
Fühlen zu gestalten. Prävention bedeutet in diesem Sinn nicht Belehrung, sondern die
Wiederherstellung von Resonanzfähigkeit – die Fähigkeit, sich berühren zu lassen und
daraus eine neue Bewegung zu finden.
Der Kölner Bericht beschreibt das mit empirischen Begriffen wie Bindung, emotionale
Kompetenz und Selbstwirksamkeit. Damit wird wissenschaftlich greifbar, was der Text Wesen
der Lebensgeschichte als „intelligible Kontingenz“ bezeichnet: die Wandlung des Zufälligen
in Sinn. Moralität entsteht, wenn ein Mensch seine Erfahrungen nicht als bloße Abfolge von
Ereignissen erlebt, sondern als etwas, das Sinn und Möglichkeit zugleich enthält.
4. Vom Sinn zum Sein
Aus dieser Perspektive erscheint Jugenddelinquenz nicht als moralisches Versagen,
sondern als unterbrochene Seinsbildung. Das Leben wird nicht mehr als erzählbare
Geschichte erfahren, sondern als fragmentierte Reihe von Ereignissen. Fehlende Moral ist
dann kein Werteproblem, sondern Ausdruck eines Mangels an innerer Form – jener
Struktur, die entsteht, wenn Erleben, Sinn und Beziehung zusammenfinden.
Moralische Bildung sollte daher dort ansetzen, wo Sinn und Sein sich berühren: im Fühlen,
in der Beziehung, in der Erfahrung, dass auch das Ungeformte Gestalt finden kann.
Moralische Entwicklung beginnt mit der Wiederentdeckung der eigenen Geschichte – und
mit der Fähigkeit, sie zu erzählen.
Sein meint hier nicht eine metaphysische Größe, sondern die erlebte
Daseinsverbundenheit: das Bewusstsein, dass mein Erleben Teil eines größeren
Zusammenhangs ist. Wenn ein Mensch dies spürt, verwandelt sich Sinn in etwas Tragendes.
So wird der letzte Gedanke des Essays klarer formuliert:
Sinn wird tragfähig, wenn er zur gelebten Erfahrung wird – wenn er Teil des Daseins, nicht
nur des Denkens ist.
Moralische Entwicklung vollendet sich dort, wo ein Mensch nicht nur versteht, warum etwas
Bedeutung hat, sondern erfährt, dass er selbst Teil eines bedeutungsvollen Ganzen ist.
Erst an dieser Stelle wird Sinn zu einer Kategorie des gelebten Seins – zu etwas, das trägt,
auch wenn die Begründung fehlt.
5. Schlussgedanke
Moralisches Handeln entsteht nicht durch Belehrung, sondern durch Beziehung. Es wächst,
wo Menschen erfahren, dass ihr Inneres Form annehmen darf. Dort, wo Resonanz entsteht –
wo Berührung Bewegung wird –, beginnt moralische Entwicklung als schöpferischer Akt
des Menschseins.
Quellen:
Wesen der Lebensgeschichte (unveröffentlichtes Manuskript, 2024), S. 1–3. (Ewertowski/
Weber) – Zitate: „Eine Geschichte ist unwiederholbar und dennoch sinnhaft“; „Stimmigkeit mit
Unstimmigkeit verknüpfen“; „Dreieinigkeit von Autor, Erzähler und Held des Lebens“.
Universität zu Köln (2024): Abschlussbericht Dunkelfeldstudie Jugenddelinquenz –
Ursachen, Dynamiken und Prävention, Kap. 5.2, 7.
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