Wie viel digitale Ablenkung verträgt ein normaler Schulalltag?

Und was passiert, wenn man sie für einige Stunden am Tag einfach herausnimmt?

Brasilien hat diese Fragen nicht theoretisch diskutiert, sondern praktisch beantwortet: Seit 2024/25 gilt dort ein landesweites Smartphone-Verbot an Schulen. Zuvor wurde der Ansatz in einem großen Schulnetzwerk in Rio de Janeiro getestet. Die Ergebnisse liegen nun vor – und sie sind bemerkenswert.


Was sich in Brasilien verändert hat

Die Pilotphase in Rio war unkompliziert angelegt: Smartphones bleiben draußen, der Unterricht läuft weiter wie gewohnt. Trotzdem zeigte sich schnell, wie stark die Veränderung wirkt.

  • Lernleistungen stiegen messbar.

  • Schülerinnen und Schüler blieben länger konzentriert.

  • Der Unterricht wurde ruhiger und direkter.

  • Die Interaktion zwischen Lernenden und Lehrkräften verbesserte sich deutlich.

Eine anschließende landesweite Befragung bestätigte diesen Trend:

  • 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler sagen, sie können sich seit dem Verbot besser konzentrieren.

  • Bei Grundschülern liegt der Wert sogar über 85 Prozent.

  • Lehrkräfte berichten weniger Streit und Ablenkung.

  • Schulleitungen sehen einen klaren Rückgang von Cybermobbing und digital verursachten Konflikten.

Kurz gesagt: Es wurde wieder möglich, ungestört zu lernen.

Das wirft eine naheliegende Frage auf:
Warum wirkt dieser Schritt so stark – und warum so schnell?


Digitale Entlastung ist kein pädagogischer Luxus

Die Ergebnisse deuten auf etwas Grundsätzliches hin:
Wenn permanente digitale Reize wegfallen, gewinnen Kinder Zeit, Aufmerksamkeit und soziale Stabilität zurück. Der Schulraum wird wieder zu einem Ort, der nicht von Benachrichtigungen, Gruppendruck oder Konflikten aus Chats überlagert wird.

Für viele Schulen in Brasilien war das spürbar:
Der Alltag wurde einfacher, geordneter – und menschlicher.

Aber ein Verbot erklärt nicht automatisch die Wirkung. Entscheidend ist, wie Schulen den Übergang gestalten.


Die Schwierigkeiten sind nicht theoretisch – sie sind praktisch

Brasiliens Behörden haben selbst untersucht, wo Schulen auf Probleme stoßen. Die Liste ist realistisch:

  • Ohne passende Aufbewahrungssysteme bleibt die Regel schwer umzusetzen.

  • Kontrolle kostet Zeit und ist nicht immer eindeutig.

  • Eltern unterstützen die Maßnahme unterschiedlich konsequent.

  • Unsicherheiten bestehen, wenn Smartphones ausnahmsweise doch gebraucht werden.

  • Und ein Teil der Schülerinnen und Schüler versteckt Geräte im Ranzen – formal weg, praktisch da.

Diese Punkte zeigen:
Ein Smartphone-Verbot wirkt, aber es wirkt nicht automatisch.
Es braucht Infrastruktur, klare Kommunikation – und Unterstützung.

Damit stellt sich die nächste Frage:
Was bedeuten diese Erfahrungen für uns in Deutschland?


Deutschland hat das gleiche Problem – aber keinen gemeinsamen Weg

Ablenkung, Gewaltvideos auf dem Schulhof, digitale Konflikte, die in den Unterricht hineinreichen – diese Situationen schildern auch deutsche Schulen. Die Symptome sind nahezu identisch mit jenen in Brasilien.

Einige Schulen haben bereits strengere Regeln eingeführt und berichten ähnliche Effekte: mehr Ruhe, weniger Streit, bessere Konzentration.

Der Unterschied:
Deutschland hat bisher keinen gemeinsamen Rahmen, sondern eine Vielzahl einzelner Lösungen. Dadurch tragen Schulleitungen und Lehrkräfte die Belastung der Aushandlung selbst.

Die Frage, die sich daraus ergibt, ist einfach:
Warum soll jede Schule das Rad neu erfinden, wenn die Evidenz klar ist?


Einordnung aus Sicht der Nfp: Warum die Ergebnisse relevant sind

In der vordiagnostischen und körperorientierten Arbeit der Nfp zeigt sich täglich, wie stark Kinder auf ihre Umgebung reagieren – besonders, wenn diese sie überfordert.

Die brasilianischen Ergebnisse bestätigen drei wesentliche Beobachtungen:

1. Aufmerksamkeit braucht Entlastung

Wenn der digitale Druck sinkt, fällt es Kindern leichter, bei sich und bei der Sache zu bleiben. Das ist kein pädagogisches Detail, sondern Voraussetzung für Lernen.

2. Soziale Stabilität entsteht nicht im Display

Viele Konflikte entstehen online, werden aber im Klassenzimmer ausgetragen. Wenn Smartphones im Unterricht keine Rolle spielen, entspannt sich das Sozialklima spürbar.

3. Ein Verbot schafft Bedingungen – aber nicht Fähigkeiten

Digitale Entlastung ist ein Rahmen.
Doch Kinder brauchen Unterstützung, um diesen Rahmen zu nutzen: Orientierung, Beziehung, die Fähigkeit, Anspannung abzubauen und im Kontakt zu bleiben. Genau hier setzt die Nfp an: vordiagnostisch, körperorientiert, niedrigschwellig und systemisch.

Die entscheidende Frage lautet deshalb:
Wie verbinden wir digitale Entlastung mit echter Unterstützung für Kinder, Eltern und Schulen?


Was wir aus Brasilien lernen können

Die Daten legen nahe, dass ein smartphonefreier Schulalltag kein Rückschritt ist, sondern eine realistische Möglichkeit, Lernfähigkeit und seelische Stabilität zu stärken.

Und sie zeigen ebenso klar:
Ohne gute Umsetzung, ohne Elternarbeit und ohne pädagogische Begleitung bleibt der Effekt begrenzt.

Für Deutschland könnte das bedeuten:

  • Ein einheitlicher Rahmen könnte Schulen entlasten.

  • Digitale Entlastung würde sofort Wirkung zeigen.

  • Vordiagnostische Angebote – wie jene der Nfp – würden dort ansetzen, wo Regelungen allein nicht reichen: bei der Unterstützung der Kinder selbst.


Auf den Punkt

Brasilien hat gezeigt, dass ein einfacher Schritt – die Reduktion digitaler Reize im Schulalltag – einen großen Unterschied machen kann. Nicht, weil Verbote pädagogisch modern wären, sondern weil Kinder dort profitieren, wo der Alltag nicht ständig auf sie einwirkt.

Für uns stellt sich damit eine zentrale Frage:

Wie schaffen wir Räume, in denen Kinder wieder lernen können, ohne von digitalen Konflikten und Ablenkungen überfordert zu werden?

Die Antwort wird nicht aus einem einzelnen Gesetz kommen, sondern aus einer Kombination aus klaren Regeln und gezielter Begleitung. Die brasilianischen Ergebnisse zeigen, dass sich dieser Weg lohnt.

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